Die Geschichte des Himmelsjahrs

Vom „Sternbüchlein“ zum „Kosmos Himmelsjahr“

Vor allem in den letzten hundert Jahren nahmen die Entdeckungen und neuen Erkenntnisse in der Himmelskunde geradezu explosionsartig zu. Auch das Interesse breiter Bevölkerungsschichten an den Vorgängen im Universum stieg gewaltig an. Dies mag auch der Anlass für Robert Henseling gewesen sein, einen populären astronomischen Kalender herauszugeben.

Im Herbst 1909 erschien erstmals sein Sternbüchlein für das Jahr 1910 in der Franckh’schen Verlagshandlung Stuttgart in der Reihe „Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde“. Nicht zuletzt die bevorstehende Wiederkehr des berühmten Halleyschen Kometen im Jahr 1910 hatte Henseling veranlasst, einen allgemein verständlichen Führer für die praktische Beobachtung des gestirnten Himmels zu verfassen. Da bekannt wurde, dass die Erde durch den Schweif des Halleyschen Kometen hindurch wandern würde, befürchtete man vielerorts eine Gasvergiftung! Denn spektroskopische Analysen hatten ergeben, dass auch Zyan in Kometenschweifen vorkommt. Gasmasken und „Kometenpillen“ fanden reißenden Absatz und die übliche Kometenfurcht vor drohendem Unheil feierte fröhliche Urständ. Denn Kometen galten seit jeher als Unglücksboten.

Heute kann man sich kaum vorstellen, wie bescheiden und lückenhaft das astronomische Wissen vor hundert Jahren noch war. Außer globalen Daten war damals kaum etwas von den Planeten unseres Sonnensystems bekannt. Von Merkur und Venus kannte man nicht einmal ihre Rotationszeiten. Unter der gleißend hellen Wolkendecke der Venus vermutete man eine üppige Vegetation mit allerlei Getier, kurz Zustände wie in der Warmzeit im Erdmittelalter vor zweihundert Millionen Jahren. Auf Mars glaubte man ein Kanalsystem zu erkennen, das die hoch entwickelte Zivilisation der Marsianer erbaut hatte, um ihren wasserarmen Planeten zu versorgen. Pluto war noch nicht entdeckt und vom Kuiper-Gürtel jenseits der Neptunbahn ahnte niemand etwas. Das Kometenreservoir der Oortschen Wolke war völlig unbekannt, niemand wusste, woher die Kometen kamen. Die beiden Marsmonde waren bereits entdeckt, von Jupiter waren fünf Monde, von Saturn neun (der zehnte, Themis getauft, entpuppte sich bald als Fehlsichtung), von Uranus vier und von Neptun ein Mond bekannt.
 
Im Jahre 1910 hatte man noch keine Ahnung von der Größe und vom Aufbau unserer Milchstraße. Der Andromeda-Nebel wurde damals von vielen Astronomen unserer Milchstraße zugerechnet, die Existenz extragalaktischer Sternsysteme war keineswegs als gesicherte Tatsache bekannt und von der wahren Größe des Universums hatte man keinen Schimmer. Niemand wusste etwas von der Expansion des Universums und von seinem Beginn in einer überdichten, extrem heißen Phase. Der Urknall war ein völlig unbekannter Begriff. Quasare, Pulsare und Schwarze Löcher waren weit jenseits der damaligen Vorstellungswelt. Niemand wusste, woher das Feuer der Sterne genährt wird, wie die Sonne ihre riesigen Energiemengen freisetzt und wie lange sie noch scheinen wird. Nur von wenigen Sternen kannte man ihre ungefähre Entfernung von der Erde. Der Begleiter des strahlend hellen Wintersterns, Sirius B, gab Rätsel auf. Die Physik der Weißen Zwerge war noch nicht entwickelt. Weltraumfahrt und Mondlandung hielt man für absolute Utopien, die niemals Realität werden würden.

Man war auf das sichtbare Licht beschränkt, wollte man Informationen von den Gestirnen entschlüsseln. Radiostrahlung, ultraviolettes und infrarotes Licht, Röntgen- und Gammastrahlen aus dem Weltall konnte man noch nicht empfangen und analysieren.

Aber vor hundert Jahren erwachte auch das Interesse an der populären Astronomie. Um diese Zeit entstanden viele Volkssternwarten in den großen Städten – so wurde die Wiener Urania-Sternwarte 1910 von Kaiser Franz Joseph I. feierlich in Betrieb genommen. Mit bloßen Augen, Ferngläsern und kleinen Teleskopen beobachtete eine immer größere Zahl von Liebhaberastronomen und Sternfreunden die Vorgänge am gestirnten Himmel. Und Robert Henseling wollte ihnen mit seinem Sternbüchlein einen gut verständlichen Leitfaden in die Hand geben, wo, wann, was und wie am Sternenhimmel zu sehen und zu beobachten ist. 

Bereits von 1908 bis 1911 verfasste Henseling den Kalender Gesundbrunnen, bevor er sich zu einem der bedeutendsten Popularisatoren der Himmelskunde entwickelte. Am 19. Oktober 1883 erblickte Robert Henseling als Sohn eines Buchhalters in Hameln das Licht dieser Welt. Seine Mutter stammte aus Schleswig-Holstein. In Dresden besuchte er die Volksschule. Auf Anraten seines älteren Bruders entschloss sich Henseling, den Lehrerberuf zu ergreifen. Er studierte ab 1897 am Freiherrlich von Fletscherschen Lehrerseminar in Dresden-Neustadt, wo er den Mathematiker Karl Otto Erdmann kennen und schätzen lernte.

Im nahegelegenen Radebeul absolvierte er 1904 bis 1907 seine drei Pflichtjahre als Lehrer, wobei sich seine große pädagogische Begabung herausstellte. In relativ kurzer Zeit brachte er dreißig mit Sprachfehlern behinderten Kindern einer Klasse Lesen und Sprechen bei, was ihm auch öffentliche Anerkennung brachte. Im Jahre 1909 zwang ein schweres Lungenleiden den jungen Lehrer, die Heilanstalt Görbersdorf in Schlesien aufzusuchen. Sein pädagogisches Talent ließ ihn auch dort nicht zur Ruhe kommen. Er begann seine Mitpatienten mit Vorträgen weiterzubilden und erkannte dabei die große Bedeutung der Erwachsenenbildung.

Im Jahre 1911 nahm Henseling das Studium der Pädagogik an der Universität Leipzig auf, das jäh vom Beginn des ersten Weltkriegs 1914 abgebrochen wurde. Henseling meldete sich als Freiwilliger zum Frontdienst. Nach Kriegsende zog er nach Stuttgart, wo er an der Volkshochschule astronomische Vorträge hielt und öffentliche Sternführungen auf der Uhlandshöhe organisierte. Bald scharte sich ein Kreis astronomiebegeisterter Zeitgenossen um ihn. 1919 gründete er mit einigen Mitstreitern den Verein Schwäbische Sternwarte e. V., dessen Hauptziel die Errichtung einer Sternwarte war. In der erstaunlich kurzen Zeit von nur zwei Jahren gelang es, den Bau der Stuttgarter Sternwarte auf der Uhlandshöhe zu erstellen. Am Sonntag, 8. Januar 1922, wurde sie feierlich in Betrieb genommen und ihrer Bestimmung übergeben. Seine Vorbilder waren die Urania- und die Treptower Sternwarte in Berlin. Damit waren seine Aktivitäten auf dem Gebiet der populären Himmelskunde aber noch lange nicht erschöpft. Schon im Jahre 1921 gab Henseling zum ersten Mal die Zeitschrift „Die Sterne“ heraus. Am 7. Mai des gleichen Jahres gründete er den „Bund der Sternfreunde (BdS)“, der sich nach dem zweiten Weltkrieg als „Vereinigung der Sternfreunde (VdS)“ neu konstituierte. Das Journal „Die Sterne“ erschien regelmäßig bis 1996, als es endgültig ein Opfer der Wende wurde und in der Zeitschrift „Sterne und Weltraum“ aufging.

Bereits 1924 gelang es Henseling, eine Abordnung des Stuttgarter Gemeinderates nach München ins Deutsche Museum zu locken, um das erste Projektionsplanetarium zu besichtigen. Mit Überzeugungskraft gelang es ihm, die Stadt Stuttgart zum Kauf eines Planetariumsprojektors zu bewegen. Am 16. Mai 1928 wurde das erste Stuttgarter Planetarium unter der Leitung von Henseling im Hindenburgbau gegenüber dem Hauptbahnhof in Betrieb genommen.
Aktive, durchsetzungsfähige und erfolgreiche Menschen haben ihre Kanten und Ecken. Auch Henseling ging selten einer Auseinandersetzung aus dem Wege. Schon wenige Monate nach Eröffnung kam es wegen einer Nichtigkeit zum Zerwürfnis mit der Stuttgarter Stadtverwaltung. Henseling verließ Stuttgart und übernahm 1929 die Leitung des Berliner Planetariums am Zoo. Bereits nach einem Jahr endete auch dieses Dienstverhältnis. Ab 1930 war Henseling als freischaffender Schriftsteller, Publizist und Vortragender mit großem Erfolg tätig.

 Er veröffentlichte über zwanzig populäre Astronomiebücher neben seinem Himmelskalender „Sternbüchlein“. Eines seiner wichtigsten Werke ist das Astronomische Handbuch (erschienen 1921 in Stuttgart), das er mit Unterstützung von Cuno Hoffmeister, Kasimir Graff, Paul Guthnick, Philipp Fauth und anderen herausgab. Ferner verfasste er zahlreiche Artikel für die Tagespresse sowie für Zeitschriften wie „Kosmos“, „Orion“ und „Natur und Technik“. Auch mit der Maya-Astronomie hat Henseling sich ausführlich beschäftigt.

Auf Vermittlung von Kurt Walter erhielt er eine Stelle als Abteilungsleiter an der Krakauer Sternwarte und war für kurze Zeit stellvertretender Leiter dieses Observatoriums. Während des Hitler-Regimes war es ihm verboten, weltanschauliche Vorträge zu halten. Kosmopolitische Ideen passten nicht zur nationalsozialistischen Ideologie, was auch den Niedergang der Planetarien in Deutschland zur Folge hatte.

In all den wechselvollen Jahren erschien stets sein Sternbüchlein. Bereits im dritten Jahrgang, 1912, erreichte es eine Auflagenhöhe von achttausend. Nach fünf Jahren drohte dem Sternbüchlein das Aus. Als Frontsoldat war es Henseling nicht möglich, astronomische Manuskripte zu verfassen. Die Jahrgänge 1915 und 1916 erschienen nie. Erst 1917 gab es wieder ein Sternbüchlein, das dann in ununterbrochener Reihenfolge bis 1940 bei Franckh-Kosmos in Stuttgart erschien.

Ein Blick in die ersten Sternbüchlein mag manchen überraschen oder gar verwirren. Wer weiß heute schon bei Koordinatenangaben, was eine „g. Aufsteigung“ und eine „Abweichung“ bedeutet? Gemeint sind hier Rektaszension und Deklination. „Sternweiten“ und „Siriusweiten“ sind auch schon lange nicht mehr im Gebrauch. Erstere firmiert heute unter der Bezeichnung Parsec (1 pc = 3,26 Lichtjahre = 30,8 Billionen Kilometer). Die „Siriusweite“ wieder sind 560.000 Sonnenweiten, also 560.000 Astronomische Einheiten (AE) zu 149,6 Millionen Kilometer.

Bezugsort für ortsabhängige Zeitangaben war stets Berlin. In der Einleitung wird betont, dass für das Datum stets die bürgerliche und nicht die astronomische Zählweise gültig ist. Bis 1925 wurde in der Astronomie der Datumswechsel nämlich zu Mittag vorgenommen. Die zweite Nachthälfte und der folgende Vormittag zählten zum vorigen Tag. So trat am 17. Januar 1923 um 2h41m Neumond ein – nach bürgerlicher Zählweise. Astronomisch lautet dieser Termin: 16. Januar 1923, 14h41m. Seit diesem Neumond werden auf Vorschlag von Ernst William Brown die Lunationen nummeriert. Erst ab 1925 folgten die Astronomen der bürgerlichen Zählweise.

Manche Textstellen wirken heute kurios, wie „die Sonne fordert Mars zum Kampf, der sich dem Kampf stellt“. Dies hat nichts mit Astrologie zu tun, die Henseling zeit seines Lebens heftig bekämpfte, wie er überhaupt gegen jede Spielart von Aberglaube war. Auch war Henseling der Überzeugung, ein astronomisches Weltbild benötige keinen Schöpfer, denn „… jedes aus der Natur gewonnene Gleichnis ist in der Anwendung auf die Menschen nur so weit richtig oder falsch, wie die Meinung richtig oder falsch ist, aus der heraus das Gleichnis erfunden wurde“. Zudem meinte er: „Der kosmisch ausgerichtete Mensch hört auf, den Ursprung aller Dinge durch irgendein vermenschlichtes Vorstellungsbild und durch Unzulänglichkeit irgendeines Namens zu beleidigen. Es gibt nur eine Haltung des Menschen vor der Schöpfung und ihrer Seele: Stumme Ehrfurcht.“

Wie angedeutet, war Henseling eine sehr eigenwillige Persönlichkeit. Jedenfalls kam es 1940, also nach dreißig Jahren Zusammenarbeit, zu einem Zerwürfnis mit dem Franckh-Kosmos-Verlag. Ab dem Jahrgang 1941 erschien das Sternbüchlein bei stets wechselnden Verlagen. Der Jahrgang 1945 fiel aus, da das fast fertige Manuskript ein Opfer des Bombenkrieges wurde. Schließlich kommt 1952 der 40. Jahrgang als kleinformatige Schrift mit nur 74 Seiten in der Serie „Orionbücher“ heraus. Letztmals erschien 1954 das Sternbüchlein von Robert Henseling. Am 1. April 1964 verstarb Henseling an den Folgen eines tragischen Verkehrsunfalls.

Der Franckh-Kosmos-Verlag wollte verständlicherweise die Tradition, jährlich einen astronomischen Himmelskalender auf den Markt zu bringen, nicht abreißen lassen. So berief er ein Autorenkollektiv, das den ersten Band des Himmelsjahres 1940/41 erstellte. Zu den Autoren zählten Dipl.-Optiker Rudolf Brandt von der Sternwarte Sonneberg, Dr. Konradin Ferrari d’Occhieppo, der spätere Ordinarius für theoretische Astronomie an der Universität Wien und profilierte Astronomiehistoriker, Prof. Dr. Arthur Krause, Dr. Fritz Lause, der Himmelsmechaniker Prof. Dr. Karl Stumpff, der Lehrer Dr. Walter Weichinger und der Stuttgarter Buchhändler, Liebhaberastronom und Vortragende am Stuttgarter Planetarium Walter Widmann. Die Autoren wechselten in den Folgejahren relativ schnell. Für den Jahrgang 1942 lieferte Erich Krug ebenfalls Beiträge. Ab 1943 war Paul Ahnert von der Sternwarte Sonneberg mit von der Partie sowie Arthur Krause. Auch die Professoren Dr. Felix Schmeidler und Karl Heinrich Schütte verfassten Beiträge sowie Dr. Helmut Werner, der langjährige Leiter der Planetariumsabteilung der Firma Carl Zeiss in Oberkochen (Württemberg). Ab dem Jahrgang 1948 taucht Max Gerstenberger als Koautor auf. Viele Jahre war der Schriftsteller und Vortragsredner Gerstenberger ehrenamtlicher Geschäftsführer des Vereins „Schwäbische Sternwarte“ in Stuttgart. Ab 1951 bis zum Jahrgang 1981 fungierte Gerstenberger als Alleinherausgeber. Der Jahrgang 1982 wurde erstmals vom jetzigen Herausgeber Prof. Dr. Hans-Ulrich Keller verfasst. Während bis dahin alle Grunddaten den großen Almanachen wie dem Berliner Jahrbuch und dem „Astronomical Ephemeris and Nautical Almanac“ entnommen wurden, beruhen ab 1982 alle Daten auf eigenen Ephemeridenrechnungen, deren Programme der Diplom-Mathematiker Dr. Erich Karkoschka entwickelt hat. Karkoschka liefert auch die meisten Skizzen für die Himmelsanblicke, Konjunktionen von Mond und Planeten, für Planetenbahnen, Aufsuchkärtchen für Planetoiden sowie die Diagramme für die Planetenhelligkeiten, Planetensichtbarkeiten und die Lage der Mondbahn.

Bereits im zweiten Jahrgang des Himmelsjahres hat man sich von der schwer lesbaren Frakturschrift getrennt und die lateinische Druckschrift eingeführt. Die Monatssternkarten wurden verbessert – sie wurden größer und die Sterne kontrastreicher dargestellt. Allmählich bildete sich das heutige Grundschema heraus mit der monatlichen Beschreibung des Sternenhimmels in der Reihenfolge Sonnenlauf, Mondlauf, Planetenlauf, Periodische Sternschnuppenströme, Fixsternhimmel und Monatsthema. Anfangs hieß die letztgenannte Rubrik noch „Sternbild des Monats“, ab 1956 dann „Objekt des Monats“ und ab 1970 schließlich „Thema des Monats“. Im Laufe der Jahre wurden die Monatsthemen ausführlicher, was den Seitenumfang ansteigen ließ. Noch 1981 hatte der Jahresband 120 Seiten. Die Ausgabe 2009 brachte es hingegen auf 300 Seiten.

Getreu dem Motto, sowohl dem Einsteiger in die Himmelskunde etwas zu bieten, als auch dem versierten Amateurastronomen nützlich zu sein, sind nach den Monatsübersichten die Ephemeridentabellen angesiedelt. Auch der Erläuterungsteil, wie das Jahrbuch zu nutzen ist, ist im Laufe der Jahre umfangreicher geworden.

Das Himmelsjahr im Wandel der Zeit

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